Der Sonntag gehört dem Schlaf!


Vor allem bei schönem Wetter kommt Sommer und Winter so gegen 9 Uhr eine unheimliche Hektik auf, gepaart mit einer grossen Portion Moralin: "An einem solchen Sonntag kann man doch nicht im Bett bleiben!", "Komm' wir unternehmen was!" , "Wann sind wir eigentlich das letzte Mal in den Bergen gewesen?"

Ja, ich war schon als Kind ein Morgenmuffel, vor allem am Sonntag, und nur die Vorstellung, dass der türkisblaue Ford Taunus 17M meiner Tante im rasantem Tempo vor unserem Haus anrauschte, brachte mich aus den Federn: Sonntagsausflug war angesagt; aber eben ein Besonderer! Vater war irgendwie weg, Tante kam mit den beiden Söhnen und zusammen mit meiner Schwester und meiner Mutter zwängten wir uns zu sechst(!) in das deutsche Wirtschaftswunderauto.

Meine Tante war die Einzige mit Führerschein und das verlieh ihr schon mal einen Touch von grosser, weiter Welt. Meine Mutter dagegen – ganz Realistin – wusste immer genau, welche Strasse wohin führt und warum die dritte Abzweigung die richtige war.

Autobahnen gab es zu jener Zeit nur in der Westschweiz und im übrigen Ausland und darum führte uns die Reise durch sauber geputzte Dörfer, die leicht verschlafen auf Kirchgänger warteten. Wir waren voller Tatendrang, wobei das Auto für mich viel wichtiger war als der "Ausflug" oder das "tolle Wetter". Das war was für die Erwachsenen. Mich interessierten die 17M des Taunus und das Armaturenbrett und der Schalthebel, der elegant vom Lenkrad abstach und scheinbar widerstandslos durch die Hände meiner Tante manipuliert wurde; dabei blitzten ihre rot lackierten Fingernägeln in der Sonntagmorgensonne. Und was für ein moderner Ton der Blinker von sich gab: ein dezentes "klack, klack" zeigte an, dass wir schneller und viel besser als die langsam den Berg hinaufkriechenden Autos vor uns waren. Die vier Kinder wurden auf den Rücksitz verfrachtet, damit die Schwestern vorne etwas unter sich waren.

Ich hatte auf meiner Seite das Fernster heruntergekurbelt, liess mir den Wind um die Nase blasen und träumte vom Luxus und der rosaroten Welt. Natürlich war der Glamour nur von kurzer Dauer: Mein Cousin musste dringend, aber wirklich dringend pinkeln; ausgerechnet jetzt, nachdem wir mühelos den fünften alten Schlitten überholt hatten und im rasanten Tempo den ersten Pass bezwingen wollten. Alles aussteigen auf dem Parkplatz der eigentlich kein Pinkelplatz war, aber für Kinder gelten andere Konventionen, vor allem wenn sie männlich sind und ihr Geschäft scheinbar problemlos hinter dem nächsten Busch erledigen können. Die erzwungene Pause gab meiner Mutter die Möglichkeit für das Wohl der Gesellschaft zu sorgen und für jeden aus der Tiefe des Kofferraums einen Apfel zu zaubern. Essen durften wir ihn allerdings nicht im Auto, das hätte sich schlecht vertragen mit den türkisblauen Sitzen und darum konnten wir schon mal den überwältigenden Ausblick ins Tal und auf die mit Schnee überzuckerten Berge bewundern. (Haben Sie schon mal ein Kind gesehen, das die Berge bewundert?) Dafür wurde mir langsam kalt an den Beinen, denn ich hatte auf kurzen Hosen bestanden, trotz des frühen Frühjahrs. Ich verzog mich – leicht frierend – auf den Beifahrersitz des 17M um die Pracht des Autoinneren ganz von nahe auf mich wirken zu lassen. Aber auch dieses Glück war nur von kurzer Dauer. Wir mussten doch an unser Ziel und vor dem Mittagessen noch etwas leisten: Einen Spaziergang (meine Mutter liebte den Ausdruck "einen Marsch") von mindestens einer Stunde hinter uns bringen. Zum Glück hatte mein älterer Cousin die 8mm Kamera seines Vaters dabei und so bekam das langweilige Sonntags-Spazieren schon fast Hollywood-Dimensionen: Die ganze Gesellschaft von Hinten, die ganze Gesellschaft von vorn, bis zum nächsten Baum rennen, sich in die Wiese werfen, rückwärts gehen, Mutter wird beinahe von Wespe gestochen, Tante setzt sich kurz auf das Bänkli und streckt die, mit eleganten Dreiviertelhosen bekleideten Beine in die Höhe, viel Kichern und Lachen, ab und zu eine Blume in der Wiese und immer wieder das obligate Winken in die Kamera, bis das mitgebrachte Filmmaterial frühzeitig aufgebraucht war ...

Und dann endlich, eeendlich die Beiz mit dem Rivella und dem Restbrot. Filmaufnahmen machen hungrig, der Ausblick ins Tal war gar nicht so schlecht und zum Glück gab es im Garten eine Schaukel, die zuerst allerdings von anderen Kindern besetzt war; blöde Kinder, die sicher nicht in einem 17M fuhren und ihren Sonntagsausflug wohl kaum auf Film dokumentieren konnten. Wir eroberten die Schaukel und den Rest des Spielplatzes mit links und es passte uns, dass unsere beiden Mütter noch eine zweite Tasse Kaffe tranken.

Der 17M wartete auf dem Parkplatz: Was für eine Wohltat, die müden Knochen in das weiche Polster zu legen und uns von der Tante ohne viel Aufwand nachhause chauffieren zu lassen. Auch wenn ich hundemüde war, musste ich immer wieder auf das Armaturenbrett schielen, vor allem auf das geschwungene, aber leider stumme Autoradio.

Am Sonntagnachmittag gab es bei Beromünster doch "Sport und Musik". Der Sport interessierte mich überhaupt nicht, aber die Musik, die wäre jetzt wirklich das Nonplusultra. "Würdest Du nicht mal bitte ..." Meine Tante fand Radio im Auto unnötig und ablenkend, aber dieses Mal machte sie eine Ausnahme. "Aber nicht zu laut!" Mein Cousin, mittlerweilen auf dem Vordersitz, schraubte am Gerät meiner Begierde und – besser hätte es nicht sein können – plötzlich war der ganze Ford Taunus voll vom unvergleichlichen Ray Conniff-Sound: Die perfekten Instrumental-Töne mit viel Echo und wortlosen Schubidubi-Stimmen brachten mich in den 7. Himmel und entschädigten mich für Alles!

Und wenn am nächsten Sonntag die Sonne scheint und ich überhaupt keine Lust nach Ausflug oder so habe, dann lege ich eine alte Platte von Ray Conniff auf, ziehe das Duvet über den Nasenspitz und träume von 1964 und dem türkisblauen Ford Taunus 17M meiner Tante Trudy.

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